Starke Medizin
Angeregt durch diesen bezaubernden Beitrag von Frau Pepa
fühle ich mich heute angeregt genug, um ein eigenes Krankenerlebnis zum Besten zu geben.
Wir schreiben das Jahr 1996. Der Gelegenheitskicker Claus liegt nach einem überaus unangenehmen und schmerzhaften Kreuzbandriß endlich im Krankenhaus. Die OP war gut verlaufen (wie auch das Blut, daß wohl etwas üppig geströmt war), und der Claus wartet auf seine Entlassung. Zwei bis drei Tage vor der Entlassung wird das Dreierzimmer mit einem neuen Patienten belegt. Ein unansehnlicher Herr "ich bekomm 'n neues Hüftgleng" mit deutlichem Übergewicht, der kaum in der Lage war, einen vernünftigen Satz in Hochdeutsch zu sprechen (Silben verschluckend, Lippen nicht auseinanderbringend), bekam das seit einem Tag leerstehende mittlere Krankenbett.
Die gepflegte und gesittete Zimmeratmosphäre kippt. Getötet durch ungehemmtes Furzen, Grunzen und Primadonnenverhalten aus dem mittleren Bett. So ein Schwein, denkt Claus.
Das Schwein liest ungehemmt seine Tittenhefte, und lässt sich dabei selbst dann nicht stören, wenn Krankenschwestern seinetwegen den Raum betreten. Ich liege rechts von ihm und beginne abgrundtief zu hassen. Stelle den Walkman laut, nur um ihn nicht mehr als umbedingt nötig wahrzunehmen. Nach dem ersten Tag ist er bereits operiert, so daß er sein Bett kurzfristig nicht verlassen kann. Unnötig zu erwähnen, daß er nach Gebrauch seine Pinkelflasche NIEMALS mit dem dazugehörenden Deckel verschließt oder sie gar vor der Zeit (was in seinem Fall knapp vor dem Überlaufen war) leeren ließ.
Eine der Schwestern betritt den Raum. Sie erkennt ihn. Er ist der Vater ihres Ex-Freundes. Er liest mal wieder Schlüssellschwein oder Wochensau. Blickt kurz auf, grüßt unverbindlich. Die wunderhübsche Krankenschwester ist immer freundlich. Auch zu ihm. Vor allem zu ihm. Sie gibt sich alle Mühe, wo sie nur kann.
Ich liege in meinem Bett und kann es nicht verstehen. Begreife aus tiefstem Herzen nicht, wie sich ein Mensch so sehr für diesen Kerl aufopfern kann, für diese (Entschuldigung) Pottsau, die sich so gehen lässt. Einen Tag später darf er zum ersten Mal aufstehen. Er telefoniert nach Hause:"Vaddi kann wieda laufn!". Kurz darauf besucht ihn seine Frau, sowie seine zwei Söhne, die erstaunlicherweise wiederum völlig normal erscheinen. Die bezaubernde Krankenpflegerin kommt hinzu, freut sich mit, verschenkt dabei Lächeln in alle Richtungen.
Am Abend vor meiner Entlassung. Ich liege in meinem Bett. Soweit wie möglich von der Urinflasche entfernt (wer will denn aufstehen, wo die Erleichterung so nahe ist, so ganz ohne Deckel...) wie nur möglich.
Hasse den Geruch in meiner Nase. Hasse, dass er so laut schnarcht.
Höre meine Musik über den Walkman. Christliche Musik. Wie immer.
Christian Rock und Haß, daß konnte nicht gut gehen.
Grübelnd blickte ich an die weiße Wand vor mir. Verstand nicht, wie diese eine Krankenschwester soviel Freundlichkeit an den Neandertaler neben mir verschenken konnte.
Und fange kurz darauf tief erschüttert an zu weinen. Minutenlang.
Mir war plötzlich bewußt geworden, daß mich mein Gott nur so sehen konnte, wie auch ich diesen Hüftpatienten sah. Unattraktiv, schlecht, schmutzig und abstossend halt.
Und daß ER mich trotzdem nicht haßte, sondern stattdessen voller Liebe für mich da war. Mich heilte, reinigte oder pflegte, wann immer ich es bedurfte oder zuließ. Und das, obwohl ich doch (Entschuldigung) so eine Pottsau war.
Bin.
Seufz.
Tief beschämt verabschiedete ich mich am folgenden Tag von dem Hüftpatienten. Er antworte in seinem typischen Gebrabbel eine Erwiderung, die nur mit großem Wohlwollen als passende Antwort gewertet werden konnte.
Ich spendierte ihm dieses Wohlwollen gerne, wissend, daß dabei vermutlich jemand freundlich auf mich herunterlächeln würde.
---
Danke, Petra. Hätte ich nicht besser sagen oder singen können:
Don't let your heart be hardened - don't let your love grow cold
May it always stay so childlike - may it never grow too old
Don't let your heart be hardened - may you always know the cure
Keep it broken before Jesus; keep it thankful, meek, and pure
May it always feel compassion - may it beat as one with God's
May it never be contrary - may it never be at odds
May it always be forgiving - may it never know conceit
May it always be encouraged - may it never know defeat
May your heart be always open - never satisfied with right
May your filled with courage and be strengthened with all might
Let His love rain down upon you
Breaking up your fallow ground
Let it loosen all the binding
Till only tenderness is found
miss clio,
2004.09.10, 11:06
Das Gefühl kenne ich bzw. ich erwische mich immer wieder mal dabei, daß ich abschätzend über jemanden denke. Nachdenklich gemacht haben mich dann zwei Bücher: "Liebe im Überfluss" von Max Lucado und - besonders witzig - "Jeder ist normal, bis du ihn kennen lernst" von John Ortberg. Es geht nicht unbedingt darum, daß wir uns Liebe abzwingen, nur weil Jesus sagt, daß wir den anderen eben lieben müssen. Wir können Jesus bitten, uns diese Liebe zu schenken, dann wird er das auch tun. Ich habe das auch beim Thema Vergebung erlebt, in einer Situation, in der ich einfach selbst nicht in der Lage war, jemandem etwas zu vergeben. Aber am Ende des Weges bin ich noch lange nicht angekommen ...
pepa.,
Samstag, 11. September 2004, 18:47
Ihre Geschichte erinnert mich sehr stark an meine allererste Zeit als Assistenzärztin in der Klinik.
Da musste ich ganz häufig auf die orthopädische Männerstation, um die Narkosevorgespräche zu führen.
Da stand ich dann inmitten eines 6-Bett-Zimmers, in dem die Schweinehefte lesenden Patienten, bis auf den einen oder anderen Knochenburch, kerngesund waren und sich langweilten.
Ich war damals 25, sah aber eher aus wie 15, na gut, 16...
... einhalb ;-)
Sie können sich vielleicht vorstellen, was da abging?
Gelegt hat sich das erst, nachdem ich ganz gezielt nur noch mit Ringelsocken und Micky-Maus-T-Shirt unterm Kittel rumgelaufen bin.
Da haben sie mir plötzlich zugehört und ich konnte meine Narkoseaufklärung in aller Ruhe machen.
Da musste ich ganz häufig auf die orthopädische Männerstation, um die Narkosevorgespräche zu führen.
Da stand ich dann inmitten eines 6-Bett-Zimmers, in dem die Schweinehefte lesenden Patienten, bis auf den einen oder anderen Knochenburch, kerngesund waren und sich langweilten.
Ich war damals 25, sah aber eher aus wie 15, na gut, 16...
... einhalb ;-)
Sie können sich vielleicht vorstellen, was da abging?
Gelegt hat sich das erst, nachdem ich ganz gezielt nur noch mit Ringelsocken und Micky-Maus-T-Shirt unterm Kittel rumgelaufen bin.
Da haben sie mir plötzlich zugehört und ich konnte meine Narkoseaufklärung in aller Ruhe machen.
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